Der Schreiner – ein Gedicht von Christian Morgenstern
Überall gibt’s Entdecker, Erfinder
Überall gibt’s Erwecker, Überwinder
Auch von eurer Zunft wird man einst lesen:
Ist da ein junger Geselle gewesen.
Was unter Hunderten keiner fand,
schuf wie im Spiel seine glückliche Hand.
Er war ein Künstler wie irgendeiner,
er machte die Freude am Leben reiner.
Man muss den Text mehrmals lesen, um verstehen zu können, dass es sich hier keineswegs um eine Ode an den Stand der Schreiner*innen handelt, die ohnehin nur im Titel des Gedichts vorkommen.
Christian Morgenstern macht sich hier Gedanken über Künstler*innen und die Rolle der Kunst in der Gesellschaft.
Wenn es überall Entdecker, Erfinder, Erwecker und Überwinder gibt, was macht dann überhaupt den Künstler zu etwas Besonderem? Den Gesellen im Gedicht hebt zwar dessen handwerkliches, nicht aber sein künstlerisches Geschick von der Mehrheit ab.
Zur Zeit Morgensterns, als die industrielle Serienproduktion den Beruf des Designers hervorbrachte, waren die Grenzen zwischen angewandter und bildender Kunst noch nicht so scharf gezogen, wie sie es in den folgenden Jahrzehnten werden sollten. Doch die Trennung zwischen Entwurf und Anfertigung gab es bereits.
Irgendwo dazwischen muss sich unser Schreiner aus dem Gedicht positionieren. Wo bleibt er mit seiner Handwerkskunst, wenn die ganze Welt nun aus vermeintlich künstlerischen Unikaten besteht?
Ich vermute, dass, so wie er schon in seiner Lyrik Dada vorausahnte, Morgenstern hier in seinem fast schon spöttischen Gedicht die Bauhausbewegung und somit die (zumindest angestrebte) Demokratisierung von Kunst und Design antizipierte.
Ein Beitrag von >>Anselm

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